Zutrauen oder Zumutung?

 

 

 

 

Bartimäus

Vor mir sehe ich die Kinderbuchzeichnung des niederländischen Künstlers Kees de Koort. Da hockt ein Mann im Staub der Straße. Er scheint sein Lebenselend heraus zu schreien. Blind ist er, aber keinesfalls unsichtbar. Mit hochrotem Kopf und weit aufgerissenem Mund brüllt er wie ein Stier! Die Elendsgestalt hat einen Namen: Bartimäus. Wenige Minuten später nimmt Jesus diesem Mann die Augenbinde ab. Es heißt, er sei Jesus dann gefolgt. Einzelheiten habe ich nicht gefunden.

Ein großes Wunder! Vielleicht erhielt er von Jericho United freien Eintritt ins Stadion auf Lebenszeit. Wer was auf sich hielt, lud ihn zum Essen ein. Aber drei Wochen später kam die Normalität zurück. Bartimäus musste sich fragen: Wie geht es weiter?

Ja, er konnte sehen. Der Mann, der von sich sagte, dass er die Wahrheit sei, hatte Bartimäus befreit. Und nun?  Unwahrscheinlich, dass unser Mann Bäcker oder Friseur war. Und vom Betteln erwirbt man keine Aktien. Sein bislang vertrauter Alltag war Geschichte. Es gab nichts mehr, was seinen bisherigen Lebenswandel rechtfertigen würde.

Bartimäus konnte jetzt sehen. Aber wieviel davon wollte er wirklich sehen? Er war ein freier Mann geworden. Aber dieser Freiraum forderte dazu heraus, gefüllt zu werden. Bislang hatten viele andere ihm Entscheidungen abgenommen. Jetzt saß er auf dem Fahrersitz. Rumorte manchmal der Gedanke in ihm, zurück zu kehren zu den Fleischtöpfen Ägyptens?

Vielleicht ließ Bartimäus dann seinen Blick zum Berg der Versuchung ins Westjordanland schweifen und er sagte sich: Wenn der Ewige mich befreit hat, dann sind die neuen Herausforderungen Zeichen seines Zutrauens mir gegenüber.

Und ich werde ihn nicht damit traurig machen, dass ich sie für Zumutungen halte.

Ja, so könnte es gewesen sein.

(Copyright Tom Laengner, 2023)